Warum gibt es Zeugnis-Codes?
Das Arbeitszeugnis in Deutschland unterliegt einem besonderen Spannungsfeld: Es muss wohlwollend formuliert sein, aber gleichzeitig wahrheitsgemäß. Diese gesetzliche Anforderung hat zur Entwicklung einer eigenen "Zeugnissprache" geführt.
Rechtlicher Hintergrund
Das Bundesarbeitsgericht hat festgelegt:
- Ein Zeugnis darf das berufliche Fortkommen nicht behindern
- Es muss aber wahr sein
- Negative Aussagen müssen zwischen den Zeilen versteckt werden
Die Folge: Zeugnis-Codes
Um beiden Anforderungen gerecht zu werden, haben sich standardisierte Formulierungen entwickelt:
- Positiv klingende Phrasen können Kritik verschleiern
- Die Reihenfolge von Aussagen ist bedeutsam
- Was fehlt, ist oft wichtiger als was da steht
- Kleine Wortänderungen machen große Unterschiede
Wer muss Zeugnis-Codes verstehen?
- Arbeitnehmer: Um das eigene Zeugnis richtig einzuschätzen
- Personaler: Um Bewerber korrekt zu beurteilen
- Führungskräfte: Um faire Zeugnisse zu schreiben
- Anwälte: Um Zeugnisberichtigungen durchzusetzen
Die Noten-Skala im Arbeitszeugnis
Jede Leistungsbeurteilung im Zeugnis entspricht einer Schulnote von 1 (sehr gut) bis 5 (mangelhaft). Note 6 wird nicht verwendet, da dies das berufliche Fortkommen zu stark behindern würde.
Die Zauberformel: "zur vollsten Zufriedenheit"
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 (sehr gut) | "stets zur vollsten Zufriedenheit" |
| 2 (gut) | "stets zur vollen Zufriedenheit" oder "zur vollsten Zufriedenheit" |
| 3 (befriedigend) | "zur vollen Zufriedenheit" |
| 4 (ausreichend) | "zur Zufriedenheit" |
| 5 (mangelhaft) | "im Großen und Ganzen zur Zufriedenheit" |
Verstärker und Abschwächer
Verstärker (verbessern die Note):
- "stets" (immer)
- "jederzeit"
- "in jeder Hinsicht"
- "in besonderem Maße"
- "durchweg"
Abschwächer (verschlechtern die Note):
- "im Wesentlichen"
- "im Großen und Ganzen"
- "insgesamt"
- "in der Regel"
- "weitgehend"
Beispiele im Vergleich
Note 1:
"Herr Müller erledigte die ihm übertragenen Aufgaben stets zu unserer vollsten Zufriedenheit."
Note 3:
"Herr Müller erledigte die ihm übertragenen Aufgaben zu unserer vollen Zufriedenheit."
Note 5:
"Herr Müller erledigte die ihm übertragenen Aufgaben im Großen und Ganzen zu unserer Zufriedenheit."
Leistungsbeurteilung entschlüsseln
Die Leistungsbeurteilung umfasst verschiedene Aspekte. Jeder folgt der gleichen Codierung:
Arbeitsbereitschaft (Motivation)
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 | "zeigte stets außerordentliche Eigeninitiative und vorbildlichen Einsatz" |
| 2 | "zeigte stets hohe Eigeninitiative und großen Einsatz" |
| 3 | "zeigte Eigeninitiative und Einsatzbereitschaft" |
| 4 | "zeigte Einsatzbereitschaft" |
| 5 | "zeigte im Rahmen seiner Möglichkeiten Einsatzbereitschaft" |
Arbeitsfähigkeit (Können)
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 | "verfügt über außergewöhnlich fundiertes Fachwissen, das er stets sicher einsetzte" |
| 2 | "verfügt über fundiertes Fachwissen, das er sicher einsetzte" |
| 3 | "verfügt über solides Fachwissen" |
| 4 | "verfügt über Fachwissen" |
| 5 | "bemühte sich, sein Fachwissen einzusetzen" |
Arbeitsweise (Wie)
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 | "arbeitete stets äußerst zuverlässig, sorgfältig und selbstständig" |
| 2 | "arbeitete stets zuverlässig, sorgfältig und selbstständig" |
| 3 | "arbeitete zuverlässig und sorgfältig" |
| 4 | "arbeitete im Allgemeinen sorgfältig" |
| 5 | "erledigte die Aufgaben im Wesentlichen ordnungsgemäß" |
Arbeitserfolg (Ergebnis)
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 | "erzielte stets hervorragende Arbeitsergebnisse" |
| 2 | "erzielte stets gute Arbeitsergebnisse" |
| 3 | "erzielte gute Arbeitsergebnisse" |
| 4 | "erzielte zufriedenstellende Arbeitsergebnisse" |
| 5 | "war bemüht, gute Arbeitsergebnisse zu erzielen" |
Verhaltensbeurteilung verstehen
Die Verhaltensbeurteilung beschreibt den Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und ggf. Kunden.
Die richtige Reihenfolge
Die Reihenfolge der genannten Personengruppen ist entscheidend:
Korrekte Reihenfolge:
"Sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Kunden war stets einwandfrei."
Problematische Reihenfolge:
"Sein Verhalten gegenüber Kollegen und Vorgesetzten war stets einwandfrei."
Warnsignal: Wenn Vorgesetzte nicht an erster Stelle oder gar nicht genannt werden, deutet das auf Autoritätsprobleme hin.
Verhaltensbeurteilung nach Noten
| Note | Formulierung |
|---|---|
| 1 | "war stets vorbildlich und wurde von allen sehr geschätzt" |
| 2 | "war stets einwandfrei/korrekt und wurde geschätzt" |
| 3 | "war einwandfrei/korrekt" |
| 4 | "gab zu keinen Beanstandungen Anlass" |
| 5 | "war im Wesentlichen einwandfrei" |
Versteckte Kritik im Verhalten
"geselliger Mitarbeiter" → Klatscht viel, verbringt zu viel Zeit mit Kollegen
"galt als toleranter Mitarbeiter" → Setzte sich nicht durch, war zu nachgiebig
"verstand es, seine Meinung zu vertreten" → War streitsüchtig, nicht kritikfähig
"zeigte Einfühlungsvermögen für die Belange der Kollegen" → Flirtete am Arbeitsplatz
Die Reihenfolge ist entscheidend
In einem qualifizierten Arbeitszeugnis gibt es eine Standard-Struktur. Abweichungen davon sind bedeutsam:
Standard-Aufbau
- Einleitung (Name, Position, Zeitraum)
- Unternehmensbeschreibung
- Tätigkeitsbeschreibung
- Leistungsbeurteilung
- Verhaltensbeurteilung
- Schlussformel
Was die Reihenfolge verrät
Leistung vor Verhalten: Normal und positiv – Leistung steht im Vordergrund
Verhalten vor Leistung: Warnsignal – Das Verhalten war möglicherweise problematischer als die Leistung
Fehlende Abschnitte: Besonders kritisch – Was nicht erwähnt wird, lief schlecht
Die Tätigkeitsbeschreibung analysieren
Vollständig und detailliert: → Gutes Zeichen, Arbeit wurde wertgeschätzt
Kurz und allgemein: → Möglicherweise wurde wenig geleistet
Nur Nebentätigkeiten genannt: → Hauptaufgaben wurden nicht zufriedenstellend erledigt
Versteckte Kritik erkennen
Die gefährlichsten Codes sind die, die positiv klingen, aber Kritik enthalten:
Die "Bemüht"-Falle
Alarmwort: "bemüht"
"Er bemühte sich, die Aufgaben zu erledigen." → Er hat es versucht, aber nicht geschafft.
"Sie war stets bemüht, pünktlich zu sein." → Sie kam oft zu spät.
"Er bemühte sich um freundlichen Umgang." → Er war oft unfreundlich.
Doppeldeutige Formulierungen
| Formulierung | Tatsächliche Bedeutung |
|---|---|
| "erledigte alle Aufgaben pflichtbewusst" | Nur das Nötigste, keine Eigeninitiative |
| "galt als umgänglich" | War schwierig im Umgang |
| "war bei Kollegen beliebt" | Vorgesetzte mochten ihn nicht |
| "zeigte Verständnis für die Arbeit" | Hat wenig gearbeitet |
| "hat sich im Rahmen seiner Fähigkeiten eingesetzt" | Begrenzte Fähigkeiten |
| "erledigte Aufgaben zu seiner Zufriedenheit" | Nicht zur Zufriedenheit des Arbeitgebers |
| "trug zur Verbesserung des Betriebsklimas bei" | Klatsch, negative Einflussnahme |
| "war ein gesuchter Gesprächspartner" | Hat zu viel geredet |
Die "Alle Aufgaben"-Technik
Scheinbar positiv:
"Er erledigte alle ihm übertragenen Aufgaben."
Problem: Keine Eigeninitiative, keine Aufgaben selbst übernommen
Besser wäre:
"Er übernahm eigenständig zusätzliche Verantwortung."
Passive Formulierungen
Passiv = Warnsignal
"Ihm wurden folgende Aufgaben übertragen..." → Er hat sie nicht aktiv übernommen
"Er wurde mit der Projektleitung betraut." → Unklar, ob er erfolgreich war
Aktiv = Positiv
"Er übernahm die Projektleitung und führte das Team zum Erfolg."
Die Schlussformel analysieren
Die Schlussformel ist der wichtigste Teil des Zeugnisses. Sie verrät die wahre Einschätzung des Arbeitgebers.
Elemente einer vollständigen Schlussformel
- Trennungsgrund (wer hat gekündigt?)
- Bedauern (Verlust des Mitarbeiters)
- Dank (für die geleistete Arbeit)
- Zukunftswünsche (beruflich und persönlich)
Die Bewertung der Schlussformel
Note 1 (Bestnote):
"Frau Müller verlässt uns auf eigenen Wunsch, was wir sehr bedauern. Wir danken ihr für ihre stets hervorragende Arbeit und wünschen ihr für ihre berufliche und persönliche Zukunft alles Gute und weiterhin viel Erfolg."
Note 2 (Gut):
"Herr Schmidt verlässt unser Unternehmen auf eigenen Wunsch. Wir bedauern sein Ausscheiden, danken für die gute Zusammenarbeit und wünschen ihm für die Zukunft alles Gute."
Note 3 (Befriedigend):
"Wir danken für die Zusammenarbeit und wünschen für die Zukunft alles Gute."
Note 4 (Ausreichend):
"Wir wünschen für die Zukunft alles Gute."
Note 5 (Mangelhaft):
Keine Schlussformel oder nur: "Wir wünschen Erfolg."
Warnsignale in der Schlussformel
Fehlender Dank: → Arbeitgeber war unzufrieden
Kein Bedauern: → Man ist froh, dass der Mitarbeiter geht
Nur persönliche Wünsche: → Beruflich wird kein Erfolg erwartet
"Wir wünschen Erfolg": → Ironisch gemeint, bisher war keiner da
Trennungsgrund verschwiegen: → Arbeitgeber hat gekündigt
Der Trennungsgrund
Positiv:
"verlässt uns auf eigenen Wunsch" "verlässt uns, um sich neuen Herausforderungen zu stellen"
Neutral:
"das Arbeitsverhältnis endet am..." "im gegenseitigen Einvernehmen"
Negativ (impliziert Kündigung durch AG):
"das Arbeitsverhältnis wurde beendet" "wir haben uns getrennt"
Gutes vs. schlechtes Zeugnis - Beispiele
Beispiel 1: Sehr gutes Zeugnis (Note 1)
Frau Musterfrau war vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2025 als Senior Projektmanagerin in unserem Unternehmen tätig.
Sie verfügte über ein außergewöhnlich fundiertes Fachwissen im Bereich Projektmanagement und IT, das sie stets sicher und gewinnbringend einsetzte.
Frau Musterfrau zeichnete sich durch herausragende analytische Fähigkeiten aus. Sie arbeitete stets äußerst zuverlässig, selbstständig und strukturiert. Ihre Arbeitsergebnisse waren stets von höchster Qualität.
Aufgrund ihrer hohen sozialen Kompetenz war ihr Verhalten gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Kunden stets vorbildlich.
Frau Musterfrau verlässt unser Unternehmen auf eigenen Wunsch, was wir außerordentlich bedauern. Wir danken ihr herzlich für ihre stets hervorragende Arbeit und wünschen ihr für ihre berufliche und private Zukunft alles erdenklich Gute und weiterhin viel Erfolg.
Erkennungsmerkmale:
- "stets" und "außergewöhnlich" als Verstärker
- Vollständige Schlussformel mit Bedauern, Dank, Zukunftswünschen
- Vorgesetzte an erster Stelle
- Keine Relativierungen
Beispiel 2: Mangelhaftes Zeugnis (Note 5)
Herr Mustermann war vom 01.06.2022 bis zum 28.02.2025 als Sachbearbeiter beschäftigt.
Er bemühte sich, die ihm übertragenen Aufgaben zu erledigen. Seine Arbeitsweise war im Wesentlichen ordentlich.
Sein Verhalten gegenüber Kollegen war korrekt.
Wir wünschen ihm für die Zukunft Erfolg.
Warnsignale:
- "bemühte sich" = hat es nicht geschafft
- "im Wesentlichen" = schwächt ab
- Vorgesetzte nicht erwähnt = Autoritätsprobleme
- Minimal-Schlussformel ohne Dank oder Bedauern
- Trennungsgrund verschwiegen = Kündigung durch AG
Zeugnis korrigieren lassen
Wenn Ihr Zeugnis unfair oder falsch ist, haben Sie Rechte:
Ihr Anspruch
Nach § 109 GewO haben Sie Anspruch auf ein:
- Wahres Zeugnis
- Wohlwollendes Zeugnis
- Vollständiges Zeugnis
- Klares Zeugnis (keine Geheimcodes)
Schritte zur Korrektur
1. Zeugnis analysieren Identifizieren Sie problematische Formulierungen
2. Gespräch mit Arbeitgeber Bitten Sie schriftlich um Korrektur
3. Frist setzen 2-3 Wochen sind angemessen
4. Rechtliche Schritte Bei Weigerung: Anwalt oder Arbeitsgericht
Was Sie fordern können
- Streichung negativer Formulierungen
- Ergänzung fehlender positiver Aspekte
- Korrektur falscher Angaben
- Vollständige Schlussformel
- Anpassung der Gesamtnote
Beweislast
| Note | Beweislast |
|---|---|
| 1-2 | Arbeitnehmer muss bessere Note beweisen |
| 3 | Gilt als "durchschnittlich" - Arbeitgeber muss schlechtere Note beweisen |
| 4-5 | Arbeitgeber muss schlechte Note beweisen |
Wichtig: Eine Note 3 können Sie i.d.R. ohne Begründung verlangen.
Rechte bei falschen Zeugnissen
Zeugnisberichtigungsklage
Wenn der Arbeitgeber nicht kooperiert:
- Klage beim Arbeitsgericht
- Kostenfreie erste Instanz (jede Partei trägt eigene Kosten)
- Anwalt empfohlen, aber nicht vorgeschrieben
Verjährung
- Frist: 3 Jahre ab Zeugniserteilung
- Aber: Verwirkung nach 10-12 Monaten möglich
- Empfehlung: Zeitnah handeln
Schadensersatz
Bei nachweislich falschem Zeugnis:
- Entgangener Verdienst
- Bewerbungskosten
- Nachweispflicht liegt bei Ihnen
Was Sie nicht verlangen können
- Eine bessere Note als verdient
- Erfundene Tätigkeiten
- Lob, das nicht der Wahrheit entspricht
- Verschweigen berechtigter Kritik
Checkliste: Zeugnis prüfen
Gehen Sie diese Punkte systematisch durch:
Formales
- Firmenlogo und Briefkopf vorhanden
- Ausstellungsdatum korrekt (Ende des Arbeitsverhältnisses)
- Unterschrift des Vorgesetzten/HR
- Keine handschriftlichen Korrekturen
Vollständigkeit
- Alle Tätigkeiten aufgeführt
- Leistungsbeurteilung enthalten
- Verhaltensbeurteilung enthalten
- Schlussformel vollständig
Leistungsbeurteilung
- Verstärker wie "stets" vorhanden
- Keine "bemüht"-Formulierungen
- Keine Abschwächer wie "im Wesentlichen"
- Gesamtbeurteilung angemessen
Verhaltensbeurteilung
- Vorgesetzte an erster Stelle genannt
- Alle relevanten Gruppen erwähnt
- Positive Formulierungen
Schlussformel
- Trennungsgrund genannt (eigener Wunsch)
- Bedauern ausgedrückt
- Dank enthalten
- Berufliche UND persönliche Zukunftswünsche
Warnsignale
- Keine versteckten Codes erkannt
- Keine ungewöhnliche Reihenfolge
- Keine fehlenden Abschnitte
- Keine doppeldeutigen Formulierungen
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